Was Internetregulierung und „Flachliegen“ gemein haben

Die jüngsten Entwicklungen in China haben eine Fülle neuer Schlagworte und Ausdrücke hervorgebracht

In den vergangenen Monaten haben sich die Recherchen und Diskussionen über China vor allem auf die folgenden Entwicklungen und Phänomene konzentriert:

  • Regulierung von Internetunternehmen (Bestreben der Regierung, den als unlauter empfundenen Wettbewerb zwischen Internetunternehmen zu regulieren)
  • „Gemeinsamer Wohlstand“ (Initiative zur Verringerung des Wohlstandsgefälles)
  • „China ist nicht investierbar“ (ein allgemeines Lamento, das alle paar Jahre aufzutauchen scheint)
  • VIE-Struktur (Variable Interest Entity) (Unternehmen, die diese Struktur nutzen, um Zugang zu den Kapitalmärkten außerhalb Chinas zu erhalten, sind möglicherweise mit staatlichen Maßnahmen konfrontiert)
  • „Flachliegen“ (Phänomen bei einigen jungen Menschen, die sich dem sozialen und wirtschaftlichen Hamsterrad entziehen, um stattdessen mit minimalem Aufwand über die Runden zu kommen)
  • „Drei Berge“ (hohe Kosten für Bildung, Gesundheitsfürsorge und Wohnen, die junge Menschen vom Kinderkriegen abhalten, was für China angesichts der raschen Alterung der Bevölkerung zu ernsthaften sozialen Problemen führen kann)
  • „Regulatorischer Reset“ (Chinas scheinbar abrupter regulatorischer Wandel in Bereichen wie Kryptowährungen, Fintech, CO2-Emissionen und digitaler Wirtschaft)

Diese Begriffe wirken bunt zusammengewürfelt und scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Eine Verbindung besteht aber darin, dass diese Schlagworte aktuelle Überlegungen und Prioritäten der chinesischen Regierung sowie die derzeitigen Ansichten der Investoren über das Land widerspiegeln. Für die chinesische Regierung ist es entscheidend, ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Zusammenhalt zu finden. Offenbar glaubt man in Peking, dass das Modell „Wachstum um jeden Preis“ in dieser Phase der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes nicht mehr tragfähig ist. Damit könnte sich der Blick der Anleger auf die Chancen in China ändern. Die zugrunde liegende Dynamik dürfte jedoch unverändert bleiben, so dass sich mit gut ausgeführten Strategien lukrative Ergebnisse erzielen lassen.

China – wieder einmal nicht investierbar? Ein Blick zurück

Die als negativ empfundenen Aspekte der aktuellen Entwicklungen in China, wie z. B. das harte Durchgreifen der Regierung gegen Internetfirmen, haben viel Aufmerksamkeit erregt und münden in der Ansicht, dass China „nicht investierbar“ ist. Allerdings kehrt diese Klage alle drei bis fünf Jahre wieder. Auslöser für Bedenken der Anleger gegenüber China waren bereits die (nicht eingetretene) Schuldenkrise von 2011, die Anti-Korruptionskampagnen von 2014 und der Beginn des Handelskriegs mit den USA im Jahr 2018, letzterer noch in lebhafter Erinnerung. Und dennoch ließen sich mit Investments in China in diesen Phasen beachtliche Gewinne erzielen.

Bei aller negativen Berichterstattung gibt es drei Faktoren, die man im Zusammenhang mit China im Auge behalten sollte. Erstens wechseln die Branchen und Trends, die die chinesischen Kapitalmärkte anführen, in der Regel alle fünf bis acht Jahre. Im Jahr 2008 standen den Finanz- und der Grundstoffsektor ganz vorne in der Gunst der Kapitalmärkte, bevor die Konsumwerte in den frühen 2010er Jahren die Führungsrolle übernahmen. In den vergangenen fünf Jahren haben sich die Internetunternehmen an die Spitze gesetzt. Das Auftauchen eines neuen Marktführers an den Kapitalmärkten ist in der Regel eine Ertragsquelle für Anleger. Zweitens befasst sich China mit innenpolitischen Fragen und führt das, was es als interne Reformen ansieht, dann durch, wenn das Land robust und wirtschaftlich stark ist. Drittens verdeckt die negative Presse viele der positiven Entwicklungen, die im Lande stattfinden.

Beweggründe für Chinas Vorschriften verstehen

War Ant Group der Anfang von allem?

Nach gängiger Auffassung begann China seine Regulierungskampagne, als im November 2020 der Börsengang der Ant Group, der der größte der Welt werden sollte, von den Behörden abgesagt wurde. In den folgenden Monaten leitete die Regierung eine Reihe von Maßnahmen gegen die Internetbranche ein, von denen Schwergewichte wie Tencent, Baidu, BABA und Weibo betroffen waren. Viele der Gesetze und Richtlinien, die nicht nur das Internet, sondern auch die Bereiche Datensicherheit und persönliche Informationen, Sozialversicherung und VIE-Strukturen betreffen, waren jedoch bereits seit 2018 in Kraft oder befanden sich in der Beratung.

Die Regulierung der Internetbranche beruht beispielsweise auf Gesetzen, die vor mehreren Jahren verabschiedet und durch neue Regelungen ergänzt wurden, welche die Durchsetzung und Einhaltung der Vorschriften verbessern sollen. Die Gesetze hatten weitreichende Auswirkungen auf breite Gruppen, die mit Internetunternehmen verbunden sind, insbesondere auf den Gebieten Fintech, Unterhaltung, elektronischer Handel und Inhalte (Grafik 1).

Grafik 1: Eine Reihe von Gesetzen nimmt weiterhin bestimmte Teile der Internet-Branche ins Visier

Eine Reihe von Gesetzen nimmt weiterhin bestimmte Teile der Internet-Branche ins Visier Quelle: Nikko AM

Was die Regulierungsinitiative antreibt

Chinas Regulierungsinitiative geht unserer Meinung nach von dem Bestreben aus, Bedrohungen für die Wirtschaft und für die Lebensgrundlage der Menschen abzuwenden, das Land gegenüber den USA wettbewerbsfähig zu halten und soziale Probleme anzugehen. Ein Weg, auf dem China einer Bedrohung der Wirtschaft und der Lebensgrundlagen mittels Regulierung begegnen will, führt über die Verringerung des Wohlstandsgefälles. Die wirtschaftliche Ungleichheit in China hat sich zu einem ernsthaften Problem ausgeweitet, das zu anderen gesellschaftlichen Herausforderungen führen und die Wirtschaft destabilisieren könnte. Genutzt werden kann die Regulierung auch, um gegen unfaire Praktiken vorzugehen und Arbeitnehmer zu schützen. Außerdem können Entwicklungen korrigiert werden, die Innovationen und den Kapitalverkehr behindern, indem sie dazu führen, dass eine Handvoll Unternehmen eine Branche dominiert. Dies ist beispielsweise in der chinesischen Internetbranche der Fall.

Im ständigen Wettkampf Chinas mit den USA könnte die Regulierung eine Schlüsselrolle spielen, indem die Regierung versucht, an verschiedenen Fronten die Oberhand zu gewinnen und den Fokus weg vom Internet zu verlagern – einer aus Sicht Pekings möglicherweise in die Jahre gekommenen Technologie. Die Regierung könnte das Kapital auf strategischere Innovationsbereiche wie Halbleiter, Elektrofahrzeuge, Verteidigungstechnologie, Drohnen, Software und moderne Fertigung umleiten.

Bei den gesellschaftlichen Aspekten dürfte das Hauptziel der Regierung darin bestehen, die sinkende Geburtenrate anzugehen. Diese ist trotz der Abschaffung der Ein-Kind-Politik weiter zurückgegangen. Die Bekämpfung des „Flachliegens“ und der „Drei Berge“, also der hohen Kosten in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnen, gilt als Initiative zur Erhöhung der Geburtenrate.

Fallstudien: Ist Regulierung falsch?

  • Ant Group: Der Fintech-Gigant hat nicht nur seinen Börsengang Ende 2020 abgesagt, sondern wurde auch des Monopolmissbrauchs und der Missachtung regulatorischer Anforderungen beschuldigt. Ein erheblicher Teil der Einnahmen der Ant Group vor dem geplanten Börsengang stammte aus unbesicherten Online-Verbraucherkrediten. Befürchtet wird, dass der leichte Zugang zu Krediten zu einem Subprime-Problem führen könnte. Das Unternehmen soll etwa 15 % der Verbraucherkredite des Landes besitzen. Ihm werden außerdem unfaire gemeinsame Kreditvergabepraktiken mit Banken vorgeworfen; diese waren gezwungen, den Großteil des Kreditrisikos zu tragen.
  • Didi Chuxing: Die Software des Betreibers der Mitfahrplattform wurde aus den App-Stores entfernt, nachdem das Unternehmen im Juni an die US-amerikanische Börse gegangen war. Die Behörden leiteten außerdem eine Untersuchung zur Cybersicherheit ein, um Lecks in der nationalen Sicherheit zu verhindern, die aus einer Börsennotierung in Übersee resultieren. Aus gesellschaftlicher Sicht wurde die Fairness der „Take Rate“, die Didi von den Fahrern erhebt (der Geldbetrag, den Didi den Fahrern für die Vermittlung von Kunden in Rechnung stellt), angesichts der Monopolstellung des Unternehmens in Frage gestellt. Die Daten, über die Didi verfügt, könnten ebenfalls als zu sensibel angesehen werden; Medienberichten zufolge hat die chinesische Cyberspace-Behörde festgestellt, dass Didi unzulässigerweise Kundendaten gesammelt und verwendet hat.
  • Außerschulische Nachhilfe (AST): Anfang 2021 gingen die Behörden gegen die boomende Nachhilfeindustrie vor. Private Unternehmen mussten den Nachhilfeunterricht für Kinder einstellen, um die Ausgaben der Familien zu senken. AST kann zwar helfen, die Noten zu verbessern, ist aber auch dafür bekannt, dass sie Schüler großem Stress aussetzt. China ist nicht das erste Land mit derartigen Bestrebungen: Südkorea hat bereits 2009 versucht, den AST-Sektor einzudämmen – mit durchwachsenem Erfolg. In China waren jedoch die Auswirkungen auf die Kapitalmärkte aufgrund der Größe des Landes und der Tatsache, dass viele AST-Unternehmen in den USA börsennotiert sind, gravierender und fanden ein größeres öffentliches Echo. Die Regulierung von AST hat finanzielle Auswirkungen auf die Schätzungen zufolge rund 100 Milliarden US-Dollar schwere Branche. Das entspricht etwa 0,7 % des chinesischen BIP. Die gesellschaftlichen Kosten für die Aufrechterhaltung eines solchen Systems könnten schlicht zu hoch sein. Zudem wurde argumentiert, dass AST zur Bildung eines elitären Systems beiträgt, was für eine Gesellschaft, die Ungleichheiten abbauen will, keine gute Entwicklung darstellt.

China ist mehr als nur Internet

Chinas Internetsektor wird im Rahmen der jüngsten Regulierungsinitiative der Regierung besonders unter die Lupe genommen. Das Land hat aber in puncto Technologie und Innovation noch viel mehr zu bieten (Grafik 2). Viele dieser Bereiche gelten als strategisch für das Land und werden daher von der Regierung stark unterstützt.

Grafik 2: Technologie- und Innovationsbereiche, die als strategisch für China gelten

Technologie- und Innovationsbereiche, die als strategisch für China gelten Quelle: Nikko AM

Auch jenseits disruptiver Technologien und Informationen hat China viel zu bieten. Wir sehen in China drei große Wachstumsfelder, die mit thematischen Trends, Dekarbonisierung und Hardware zu tun haben (Grafik 3).

Grafik 3: Die wichtigsten Wachstumsfelder in China

Die wichtigsten Wachstumsfelder in China Quelle: Nikko AM

Chinas Märkte werden in ihrer Tiefe nur von denen der USA übertroffen. Außerdem findet man hier sowohl dominante Sektoren, die es anderswo nicht gibt, als auch aufstrebende Bereiche, die die Anleger begeistern. Aktives Investieren ist unserer Ansicht nach ein Schlüsselfaktor auf diesen sehr vielfältigen Kapitalmärkten, wo die Marktführer häufig wechseln.

Zusammenfassung

China geht proaktiv gegen Auswüchse vor, die zu ernsten Problemen für die Gesellschaft führen könnten, wenn sie nicht angegangen werden. Möglicherweise haben viele Anleger die chinesische Regierung wieder einmal falsch eingeschätzt und die strukturelle Stärke der Wirtschaft unterschätzt. Wir sind davon überzeugt, dass zum Ersten schlechte Akteure bestraft werden, China zum Zweiten ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Zusammenhalt anstrebt und zum Dritten China weiterhin Bereiche unterstützen wird, die es als strategisch wichtig für seine Wirtschaft ansieht. „Durch Regulierung zur Innovation“ und/oder „Erst Innovation, dann Regulierung“ sind in China zyklisch verlaufende Entwicklungen. Nicht jeder Sektor oder jedes Unternehmen geht aus diesen Zyklen als Sieger hervor. Entscheidend ist es, diese Gewinner zu identifizieren und auszuwählen. Mit Änderungen bei Vorgehen und Vorschriften kann die Regierung vielen Sektoren helfen und dabei neue Marktführer an den Kapitalmärkten hervorbringen.